1864 führte Paris eine neue Form des „Theaters“ ein, die schnell äußerst populär wurde. Es war für die Öffentlichkeit kostenlos und sieben Tage die Woche geöffnet. Straßenverkäufer reihten sich draußen aneinander und verkauften Obst und Nüsse an neugierige Touristen und Passanten, die in der Schlange warteten. Sobald man die dunkle, stille Ausstellungshalle betrat, zogen die Angestellten die Vorhänge zurück, um eine schockierende Szene zu enthüllen: Leichen. Dies war das alltägliche Spektakel im Pariser Leichenschauhaus.
Dieses Gemälde zeigt, wie Menschen Mitte des 19. Jahrhunderts die nicht identifizierten Leichen im Pariser Leichenschauhaus betrachteten. Bevor Kühlsysteme erfunden wurden, tropften Leichenhäuser kaltes Wasser auf die Körper, um den Zersetzungsprozess zu verlangsamen.
Obwohl es unheimlich klingt, war das Leichenschauhaus im späten 19. Jahrhundert eine der beliebtesten Attraktionen in Paris. Bis zu 40.000 Menschen täglich besuchten die Morgue und starrten auf die halbnackten, verwesenden Leichen – viele davon aus der nahe gelegenen Seine geborgen –, die auf Marmorplatten hinter Glasfenstern ausgestellt waren. In englischen Reiseführern wurde es sogar als „Todesmuseum“ (Le Musée de la Mort) bezeichnet.
Der offizielle Zweck der Morgue war es, die Öffentlichkeit bei der Identifizierung nicht beanspruchter Leichen zu helfen. Doch wie Vanessa Schwartz, Professorin an der University of Southern California und Autorin von Spectacular Realities: Early Mass Culture in Fin-de-Siècle Paris, betont, war es eher eine Art Schauspiel. Sie argumentiert überzeugend, dass die Pariser Morgue zusammen mit Wachsfigurenkabinetten und reißerischen Zeitungen eine Form von „Real-Life“- oder „True-Crime“-Unterhaltung schuf, von der die Öffentlichkeit nicht genug bekommen konnte.

Paris: Die „Schaukultur“ der ersten modernen Stadt
In den 1850er Jahren startete Napoleon III. (Neffe von Napoleon Bonaparte) ein ehrgeiziges Projekt, um Paris von einer mittelalterlichen Stadt mit engen, labyrinthartigen Gassen in eine moderne Metropole zu verwandeln. Die neue Stadt prunkte mit breiten Boulevards, weitläufigen Parks und Wundern wie unterirdischen Abwassersystemen.
Angesichts dieser offenen, begehbaren Stadt prägten Pariser den Begriff flânerie, der sich auf das urbane Vergnügen des ziellosen Umherstreifens bezieht. Schwartz betont, dass Paris auch die erste Stadt war, die Warenhäuser einführte, die ein neues Einkaufserlebnis boten.
Diese Skizze zeigt die Pariser Morgue vor der Stadterneuerung und ihrer Verlegung in die Nähe der Kathedrale Notre-Dame.
„Es war das erste Mal, dass man in ein Geschäft gehen konnte, nur um zu schauen“, sagt Schwartz. „In Paris gab es eine ‚Schaukultur‘, bei der die Stadt zu etwas wurde, das man visuell konsumieren konnte.“
Die Morgue war Teil dieser Verwandlung. Es war ein durch und durch modernes Gebäude hinter der berühmten Kathedrale Notre-Dame, in dem nicht beanspruchte Leichen sorgfältig bearbeitet, gewaschen, untersucht und dann zur öffentlichen Identifizierung ausgestellt wurden.
Doch bald wurde die Morgue zu einem weiteren kuriosen Ort, den die Flaneure „konsumieren“ konnten. Mit ihren dramatischen Vorhängen und der ständig wechselnden „Besetzung“ wurde die Morgue zu einer der Attraktionen, die die Menschen massenweise anzog. Schwartz zitiert einen Kommentator von 1869, der die Menge in der Morgue beschrieb: „Sie kamen nur, um zu schauen, genau wie sie Fortsetzungsromane lasen oder ins Ambigu (ein Komödientheater) gingen; an der Tür riefen sie sich gegenseitig zu und fragten: ‚Was gibt’s heute zu sehen?‘“
Das lebensechte Wachsfigurenkabinett

Das Wachsfigurenkabinett war eine weitere Erfindung des 19. Jahrhunderts mit interessanten Parallelen zur Morgue. Beide zielten darauf ab, ein „realistisches Wunder“ zu schaffen. Frühe Pariser Wachsfigurenkabinette zeigten nicht nur berühmte historische Persönlichkeiten, sondern inszenierten auch aktuelle Nachrichtenereignisse. Das Grévin-Museum (noch heute in Betrieb) wurde vom Journalisten Arthur Meyer gegründet, der Zeitungsberichte zum Leben erwecken wollte. Je schauriger die Skandale oder grausiger die Mordfälle, desto mehr lockten sie Leser an, diese Geschichten im Wachsfigurenkabinett zu „betrachten“.
Bis 1882 hatte die Pariser Morgue die fortschrittlichsten Kühlsysteme installiert, die Leichen wochenlang konservieren konnten.
Ähnliches geschah in der Morgue. Die aufmerksamkeitsstärksten Ausstellungen betrafen oft Frauen oder Kinder, die unter tragischen oder mysteriösen Umständen gestorben waren. Wenn ein Kind oder eine junge Frau in die Morgue gebracht wurde, berichteten Zeitungen ausführlich darüber und zogen Besucherscharen an. Sogar Morgue-Mitarbeiter und Stadtoffizielle mischten mit, indem sie die Leichen verstorbener Kinder manchmal in feine Kleidung hüllten oder „Konfrontationen“ inszenierten, wenn Verdächtige von der Polizei festgenommen wurden.
1882 installierte die Morgue modernste Kühlsysteme, um die Ausstellungsdauer zu verlängern. Zuvor hatten Mitarbeiter bei zu schneller Zersetzung der Leichen diese durch lebensechte Wachsfiguren ersetzt, um die Neugier der Öffentlichkeit zu befriedigen. Ein berühmter Fall war die 1976 „in zwei Hälften geschnittene Frau“, deren Leiche in diesem Zustand ausgestellt wurde und zahlreiche Besucher anzog. Später ersetzte die Wachsfigur die Leiche, um die „Vorstellung“ fortzusetzen.
Schwartz weist darauf hin, dass etwa 300.000 bis 400.000 Menschen kamen, um diese Kombination aus Opferleichen und realistischen Wachsfiguren zu bestaunen.
Beschreibungen der Morgue im 19. Jahrhundert

Um nachzuempfinden, wie sich ein Besuch in der Pariser Morgue anfühlte, beschrieb der französische Schriftsteller Émile Zola das Erlebnis in seinem 1867 erschienenen Roman Thérèse Raquin lebhaft. Die Morgue war ein Schauspiel für alle, das Menschen aus allen Gesellschaftsschichten anzog. Einige machten sogar extra einen Umweg, um die „Vorstellung des Todes“ zu besuchen. Gab es keine Leichen zu sehen, waren die Besucher enttäuscht. Doch wenn welche ausgestellt waren, äußerten sie ihre Emotionen wie im Theater, manchmal klatschten oder pfiffen sie sogar beim Gehen, zufriedengestellt.
Um 1910 hielt ein pferdegezogener Leichenwagen vor der Pariser Morgue. Bis 1907 war der öffentliche Ausstellungsraum der Morgue vollständig geschlossen.
Doch nicht jeder schätzte diese Ausstellungen. Ein Harvard-Student schilderte 1885 seine negativen Eindrücke der Morgue: „Die gierige Menge drängte sich an den Fenstern, alte Frauen schwatzten laut, blassgesichtige Damen starrten unverwandt, und Kinder wurden hochgehoben, um besser zu sehen. Der Anblick war verstörend.“
Aus moralischen Gründen schloss der öffentliche Ausstellungsraum der Morgue 1907. Die Verkäufer, die vom Besucherstrom lebten, waren enttäuscht. Ein Schriftsteller spottete, die Morgue sei wie ein kostenloses Volkstheater gewesen, das nun abgesetzt worden sei. Es schien, als habe die soziale Gerechtigkeit noch nicht Einzug gehalten.